Psychosoziale Notfallversorgung von Justizvollzugsbediensteten
nach besonders belastenden beruflichen Ereignissen in den Justizvollzugseinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen
RV d. JM vom 6. Mai 2024 (2400 - IV. 39)

 

1

Psychosoziale Notfallversorgung

 

In den Justizvollzugseinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen (Justizvollzugsanstalten, Jugendarrestanstalten, Justizvollzugsschule) werden den Justizvollzugsbediensteten Maßnahmen der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) nach besonders belastenden beruflichen Ereignissen angeboten. Dies können u.a. Selbstschädigungen bei Gefangenen, Bedrohungen, Beleidigungen, gewalttätige Übergriffe, Erpressungen, Geiselnahmen oder die Verbringung von Inhaftierten in den besonders gesicherten Haftraum sein.

 

 

2

Zielsetzung

 

Die Psychosoziale Notfallversorgung dient der Unterstützung der betroffenen Bediensteten nach besonders belastenden beruflichen Ereignissen durch gezielte Erstversorgung sowie die Begleitung und Förderung der Bewältigung belastender Faktoren durch die in den Justizvollzugseinrichtungen bestellten kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner. Langfristige körperliche oder psychische Folgen sollen nach Möglichkeit verhindert werden. Jede Maßnahme wird auf die individuellen Bedürfnisse der oder des betroffenen Bediensteten abgestimmt.

 

 

3

Organisation

 

3.1

In den Justizvollzugseinrichtungen werden kollegiale Ansprechpartnerinnen und kollegiale Ansprechpartner für die Psychosoziale Notfallversorgung durch die Anstaltsleitung bestellt und bilden ein PSNV-Team. Das PSNV-Team unterbreitet der Anstaltsleitung Vorschläge für die Bestellung. Die Anzahl der kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner orientiert sich an der Größe und der Zweckbestimmung der jeweiligen Justizvollzugseinrichtung.

 

3.2

Das PSNV-Team bestimmt eigenständig eine Sprecherin oder einen Sprecher und eine Vertretung für organisatorische Angelegenheiten und als Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner für die Anstaltsleitung. Die Sprecherin oder der Sprecher bzw. die Vertretung ist nach dem konkreten Bedarf von den sonstigen Aufgaben zu entlasten. Die Anstaltsleitung legt den Umfang der Entlastung in Abstimmung mit der Sprecherin oder dem Sprecher fest.

 

3.3

Die Kontaktdaten der kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner sind in der jeweiligen Justizvollzugseinrichtung allen Bediensteten in geeigneter Weise bekannt zu machen.

 

Nach einem belastenden Ereignis informiert die oder der Vorgesetzte die oder den betroffenen Bediensteten über die derzeit verantwortliche kollegiale Ansprechpartnerin oder den derzeit verantwortlichen kollegialen Ansprechpartner. Die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner sind im Rahmeneinsatzplan vermerkt. Gleichzeitig informiert die oder der Vorgesetzte die kollegiale Ansprechpartnerin oder den kollegialen Ansprechpartner über das Ereignis oder veranlasst die Information über die Anstaltsleitung bzw. die Verwaltung. Die kollegiale Ansprechpartnerin oder der kollegiale Ansprechpartner kann auch eigenständig bzw. aufsuchend tätig werden.

 

3.4

Die Tätigkeit als kollegiale Ansprechpartnerin oder kollegialer Ansprechpartner wird im Geschäftsverteilungsplan aufgeführt.

 

3.5

Die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner üben ihre Tätigkeit während der Dienstzeit eigenständig und weisungsungebunden aus. Sie zeigen ihren Vorgesetzten vor Verlassen ihres Arbeitsplatzes ihr Tätigwerden an, ohne dabei über die Art ihrer Aufgabe Auskunft geben zu müssen. Auch ihr Tätigwerden außerhalb der Regelarbeitszeit zeigen sie an, soweit erforderlich auch nachträglich. Ein Tätigwerden außerhalb der Regelarbeitszeit gilt als Dienstzeit. Die Ausübung der Tätigkeit als kollegiale Ansprechpartnerin oder kollegialer Ansprechpartner soll nicht zu einer Überschreitung der wöchentlichen Arbeitszeit führen. Sie sind nach dem konkreten Bedarf von ihren sonstigen Aufgaben zu entlasten.

 

 

4

Qualifikation

 

Als kollegiale Ansprechpartnerin oder kollegialer Ansprechpartner können Justizvollzugsbedienstete aller Laufbahnen bestellt werden, die über Erfahrungen im Umgang mit Belastungssituationen und besondere emotionale Stabilität verfügen und sich in der Lage sehen, mit den verschiedenen Problemlagen einfühlsam und konstruktiv umzugehen.

 

Die fachlichen Kenntnisse werden in einer verpflichtenden Grundschulung vermittelt. Aufbaulehrgänge sind regelmäßig durchzuführen. Darüber hinaus können Maßnahmen der Supervision für die Selbstreflexion genutzt werden.

 

 

5

Aufgaben

 

5.1

Die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner bieten den betroffenen Bediensteten nach besonders belastenden beruflichen Ereignissen ein Gespräch an. Im ersten Kontakt wird geklärt, ob über das kollegiale Gespräch hinaus Hilfsangebote anderer Stellen genutzt werden sollen. Für die betroffenen Bediensteten besteht auch die Möglichkeit, sich direkt an die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner zu wenden.

 

Der Erstkontakt soll grundsätzlich unmittelbar nach dem Ereignis, spätestens innerhalb von 24 bis 72 Stunden, mit einer kollegialen Ansprechpartnerin oder einem kollegialen Ansprechpartner hergestellt werden. Besteht weiterer Gesprächsbedarf, erfolgen nach angemessener Zeit weitere Gespräche. Die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner stehen für Erstgespräche auch dann zur Verfügung, wenn das Ereignis bereits längere Zeit zurückliegt.

 

5.2

Die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner dokumentieren in anonymisierter Weise, ob ein Erstgespräch stattgefunden hat. Die jährlich angefallenen Beratungs- und Betreuungsfälle werden statistisch erfasst und der Koordinatorin oder dem Koordinator des zuständigen Arbeitskreises PSNV (vgl. Ziffer 7) jährlich zum 31. Januar übermittelt.

 

5.3

Zur Tätigkeit der kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner gehören auch der Aufbau weiterer Kontakte und Kooperationen zu externen Beratungs- und Therapieeinrichtungen sowie die Unterstützung bei der Vermittlung der betroffenen Bediensteten an externe Einrichtungen. Für die Vermittlung in therapeutische oder ärztliche Behandlung ist es erforderlich, dass sich die Anstaltsleitung oder die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner über adäquate externe Hilfsangebote vor Ort informieren und Kontakt zu den entsprechenden Einrichtungen aufnehmen.

 

 

6

Vertrauensschutz / Datenschutz

 

6.1

Die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner unterliegen der Verschwiegenheitspflicht. Hiervon darf nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Betroffenen abgewichen werden.

 

6.2

Eine Anzeigeverpflichtung nach gesetzlichen Vorschriften (insbesondere § 138 StGB) bleibt für die kollegialen Ansprechpartnerinnen und kollegialen Ansprechpartner bestehen. Sie haben im Falle einer Zeugenvernehmung zu Sachverhalten ihrer Beratungstätigkeit kein Zeugnisverweigerungsrecht.

 

6.3

Die Meldepflicht nach Nummer 9 der Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug (DSVollz) bleibt mit der Maßgabe unberührt, dass wichtige Vorgänge dann vorliegen, wenn nach vertretbarer Einschätzung der kollegialen Ansprechpartnerin oder des kollegialen Ansprechpartners ein Fall erheblicher Gefahr für den Ratsuchenden oder für andere Personen oder ein Fall vergleichbarer Tragweite vorliegt. Es empfiehlt sich auf die Meldepflicht im Laufe eines Gesprächs hinzuweisen, sobald sich Fakten ergeben könnten, die die kollegiale Ansprechpartnerin oder der kollegiale Ansprechpartner nach vertretbarer Einschätzung als meldepflichtig einstuft.

 

 

7

Arbeitskreise PSNV

 

7.1

Zum Zweck der anstaltsübergreifenden Vernetzung und des Erfahrungsaustauschs, aber auch zur Durchführung anstaltsübergreifender Einsätze im Bedarfsfall bestehen sieben Arbeitskreise PSNV:

 

- Arbeitskreis Bergisches Land

(Justizvollzugsanstalten Düsseldorf, Remscheid, Wuppertal-Ronsdorf und Wuppertal-Vohwinkel, Jugendarrestanstalten Düsseldorf und Remscheid, Justizvollzugsschule Nordrhein-Westfalen),

- Arbeitskreis Niederrhein

(Justizvollzugsanstalten Duisburg-Hamborn, Geldern, Kleve, Moers-Kapellen, Willich I und Willich II),

 

- Arbeitskreis Ostwestfalen-Lippe

(Justizvollzugsanstalten Bielefeld-Brackwede, Bielefeld-Senne, Detmold, Herford und Hövelhof),

 

- Arbeitskreis Rhein

(Justizvollzugsanstalten Aachen, Euskirchen, Heinsberg, Köln, Rheinbach und Siegburg),

 

- Arbeitskreis Ruhr

(Justizvollzugsanstalten Bochum, Bochum-Langendreer, Essen und Gelsenkirchen, Sozialtherapeutische Anstalt NRW, Jugendarrestanstalt Bottrop),

 

- Arbeitskreis Sauerland

(Justizvollzugsanstalten Attendorn, Hagen, Iserlohn, und Schwerte, Justizvollzugskrankenhaus Nordrhein-Westfalen, Jugendarrestanstalt Wetter),

 

- Arbeitskreis Westfalen

(Justizvollzugsanstalten Castrop-Rauxel, Dortmund, Hamm, Münster und Werl, Jugendarrestanstalt Lünen).

 

7.2

Für jeden Arbeitskreis PSNV wird auf Vorschlag aus dem jeweiligen Arbeitskreis eine Koordinatorin oder ein Koordinator sowie eine Vertretung für die Dauer von zwei Jahren durch die jeweilige Dienstvorgesetzte oder den jeweiligen Dienstvorgesetzten bestellt. Die Koordinatorin oder der Koordinator soll nach Möglichkeit rotierend aus den im Arbeitskreis vertretenen Justizvollzugseinrichtungen bestimmt werden.

 

7.3

Die Koordinatorin oder der Koordinator organisiert den regelmäßigen Austausch zwischen den Justizvollzugseinrichtungen, leitet Besprechungen und vertritt den Arbeitskreis in der Begleitgruppe PSNV. Sie sind nach dem konkreten Bedarf von ihren sonstigen Aufgaben zu entlasten.

 

7.4

Die Arbeitskreise PSNV können Empfehlungen zu fachlichen Fragen der Psychosozialen Notfallversorgung gegenüber den Justizvollzugseinrichtungen aussprechen und entsprechende Themen an die Begleitgruppe PSNV herantragen.

 

 

8

Begleitgruppe PSNV

 

8.1

Die bestellten Koordinatorinnen und Koordinatoren der sieben Arbeitskreise PSNV tauschen sich in der Begleitgruppe PSNV mindestens einmal im Halbjahr über fachliche, organisatorische und sonstige Fragen zur Psychosozialen Notfallversorgung aus. Der Begleitgruppe PSNV gehören auch eine Vertreterin oder ein Vertreter des Hauptpersonalrats Justizvollzug und der Hauptschwerbehindertenvertretung Justizvollzug an. Aus dem Kreis der Koordinatorinnen und Koordinatoren wird auf Vorschlag der Begleitgruppe PSNV eine Sprecherin oder ein Sprecher sowie eine Vertretung für die Dauer von zwei Jahren durch das für Justiz zuständige Ministerium bestellt. Die Sprecherin oder der Sprecher ist nach dem konkreten Bedarf, mindestens im Umfang von 0,25 MAK, von den sonstigen Aufgaben zu entlasten.

 

8.2

Die Sprecherin oder der Sprecher der Begleitgruppe PSNV berichtet dem für Justiz zuständigen Ministerium mindestens einmal jährlich über die statistischen Erhebungen, die Fortbildungsbedarfe sowie die aktuellen Entwicklungen und Fragestellungen in der Psychosozialen Notfallversorgung.

 

Eine Vertreterin oder ein Vertreter des Ministeriums der Justiz kann an den regelmäßigen Besprechungen der Begleitgruppe PSNV teilnehmen.

 

 

9

Inkrafttreten

 

Die Rundverfügung tritt am 1. Juni 2024 in Kraft. Die Rundverfügung vom 4. August 2014 (2400 -  IV. 39) wird aufgehoben.