Runderlass zur Förderung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Jugendstrafverfahren
Gemeinsamer Runderlass des Ministeriums der Justiz (4210 – III. 86),
des Ministeriums des Innern (IV – D 2 – 6591/2.8)
und des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie,
Gleichstellung, Flucht und Integration (IV – B 2 – 6150)

Vom 12. Dezember 2024
-JMBl. NRW S. 149 -

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Vorbemerkungen

 

Der Täter-Opfer-Ausgleich, im Folgenden TOA, soll den durch eine Straftat gestörten Rechtsfrieden zwischen der beschuldigten Person und der geschädigten Person wiederherstellen. Jugendlichen und Heranwachsenden sollen die Folgen ihrer Tat verdeutlicht und oft vernachlässigte Opferbelange der Geschädigten berücksichtigt werden. Für die geschädigte Person soll auf außergerichtlichem Wege eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung zur Beseitigung oder wenigstens Milderung der mit der Straftat verbundenen Folgen gefunden werden. Den geschädigten Personen können überdies ein Zivilrechtsstreit und eine Vernehmung als Zeugen erspart werden.

 

Der TOA kommt im Jugendstrafverfahren als erzieherische Maßnahme zur Vorbereitung einer Diversionsentscheidung nach Maßgabe der Diversionsrichtlinien vom 25. September 2023 (MBl. NRW. S. 1288) in Betracht.

 

Die Initiative für einen TOA kann von der beschuldigten Person, der geschädigten Person und von Amts wegen erfolgen. Die Ausgleichsleistungen der beschuldigten Person können finanzieller oder kompensatorischer Art sein.

 

Ein erfolgreich durchgeführter TOA kann dazu führen, dass die Staatsanwaltschaft gemäß § 45 Absatz 2 des Jugendgerichtsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3427), das zuletzt durch Artikel 21 des Gesetzes vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2099) geändert worden ist, von der weiteren Verfolgung der Straftat absieht.

 

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Rechtliche Grundlagen

 

Rechtliche Grundlagen für die Berücksichtigung des TOA sind bei Jugendlichen und Heranwachsenden § 46 Absatz 2 Satz 2 6. Variante, § 46a des Strafgesetzbuchs in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 30. Juli 2024 (BGBl. 2024 I Nr. 255) geändert worden ist, § 10 Absatz 1 Satz 3 Nummer 7, § 21 Absatz 1 Satz 2, § 45 Absatz 2 Satz 2, § 105 Absatz 1 des Jugendgerichtsgesetzes, § 155a, § 155b der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 30. Juli 2024 (BGBl. 2024 I Nr. 255) geändert worden ist. Zu beachten sind ferner § 29, § 30 der Gnadenordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1975 (GV. NRW. S. 16) in der jeweils geltenden Fassung.

 

Ist das Verfahren gerichtlich anhängig, ist zudem § 47 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3 des Jugendgerichtsgesetzes zu beachten.

 

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Anwendungsbereich

 

3.1

Ein TOA kommt bei immateriellen und materiellen Schäden in Betracht, und zwar auch in Fällen, in den es beim Versuch verblieben ist. Bei der geschädigten Person muss in der Regel ein noch regelungsbedürftiger Schaden vorliegen. Neben dem immateriellen Ausgleich (Reue, Verständnis, Versöhnung) soll eine, wenn möglich abschließende, materielle Wiedergutmachung erreicht werden. Soweit ein materieller Schadensersatz angezeigt ist, ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der beschuldigten Person angemessen zu berücksichtigen. Dabei sind Ratenzahlungen und – bei fehlenden finanziellen Mitteln – auch Arbeitsleistungen in Betracht zu ziehen.

 

3.2

Ein TOA bei jugendlichen und heranwachsenden beschuldigten Personen kommt grundsätzlich bei allen Delikten in Betracht, in denen eine natürliche Person durch eine Straftat geschädigt wurde.

Bei der Sondierung der Bereitschaft zur Teilnahme am TOA ist der Freiwilligkeit besondere Bedeutung beizumessen. Bei minderjährigen Beteiligten ist jeweils die Zustimmung der Personensorgeberechtigten erforderlich. Es ist stets zu vermeiden, dass insbesondere geschädigte Personen sich zu einer Teilnahme am TOA gedrängt fühlen oder der Eindruck einer Bagatellisierung der Tat entsteht. Eine Sekundärviktimisierung ist zu vermeiden. Dies ist bei der Entscheidung, ob das konkrete Verfahren für den TOA tatsächlich geeignet ist, stets in besonderem Maße zu berücksichtigen.

 

3.3

Das Bemühen um einen TOA darf nicht zu einer Einschränkung der Unschuldsvermutung und von Verteidigungsrechten der beschuldigten Person führen. Der TOA setzt voraus, dass die beschuldigte Person bereit ist, die Verantwortung für die Tat zu übernehmen und die Wiedergutmachung und die Begegnung mit der geschädigten Person ihr glaubhaftes Interesse ist.

 

3.4

Die Staatsanwaltschaft prüft vorrangig, ob das Verfahren nach § 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung einzustellen oder nach § 45 Absatz 1 des Jugendgerichtsgesetzes von der Verfolgung abzusehen ist.

 

3.5

Vorstrafen oder ein bereits in früheren Verfahren versuchter Ausgleich schließen einen erneuten Ausgleich nicht von vornherein aus. Bei der Entscheidung über das erneute Bemühen der Durchführung eines TOA sind die Vorstrafen der beschuldigten Person und bereits erfolgte Ausgleichsversuche nach Rücksprache mit der Ausgleichsstelle insbesondere im Hinblick auf eine Gleichartigkeit oder ein ähnliches Verhaltensmuster in Bezug auf die neue Tat zu prüfen und sodann in einer Gesamtbetrachtung mit den Erfolgsaussichten eines erneuten Ausgleichs, der Prävention und dem Erziehungsgedanken abzuwägen.

 

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Ausgleichsstellen

 

4.1

Der TOA wird im Jugendstrafverfahren als eine die Erziehung fördernde Maßnahme grundsätzlich von dem zuständigen öffentlichen Träger der Jugendhilfe durchgeführt (Jugendamt).

 

4.2

Darüber hinaus können als Ausgleichsstelle je nach den Umständen namentlich in Betracht kommen

a) der ambulante Soziale Dienst der Justiz,

b) der Soziale Dienst des Strafvollzuges bei inhaftierten Personen und

c) Träger der freien Jugendhilfe, z. B. Träger der Wohlfahrtspflege.

 

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Verfahren

 

5.1

Die Polizei klärt auf Basis des Sachverhaltes und insbesondere der persönlichen Kontakte zur geschädigten Person und zur beschuldigten Person, ob sich ein TOA anbietet und die Bereitschaft zur Durchführung bei beiden Parteien vorhanden ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu erfragen, ob zwischen den Beteiligten ein formeller Ausgleich bereits stattgefunden hat oder angebahnt wurde. Das Ergebnis ist aktenkundig zu machen und es ist gegebenenfalls ein TOA zu empfehlen. Den Beteiligten händigt die Polizei ein Merkblatt zum TOA im Jugendstrafverfahren nach Muster der Anlage zu diesem Runderlass aus.

 

5.2

 

5.2.1

Die Entscheidung, ob ein TOA versucht werden soll, trifft die Staatsanwaltschaft in jedem Stadium des Verfahrens. Dabei sollen Anregungen der Polizei oder anderer Stellen berücksichtigt werden. Zur Vorbereitung ihrer Entscheidung kann sich die Staatsanwaltschaft auch des zuständigen Trägers der Jugendhilfe oder des ambulanten Sozialen Dienstes der Justiz bedienen.

 

5.2.2

Zur Einleitung des TOA übermittelt die Staatsanwaltschaft der Ausgleichstelle Namen und Anschrift der beschuldigten und der geschädigten Person sowie die Akten oder zumindest alle erforderlichen Angaben zum Sachverhalt und setzt ihr eine angemessene Frist zur Durchführung. Dabei weist sie nicht-öffentliche Stellen ausdrücklich darauf hin, dass sie die übermittelten Daten nur für Zwecke des TOA verwenden darf. 

 

5.2.3

Sofern die Staatsanwaltschaft einen TOA nicht für angezeigt hält, prüft sie, ob den Interessen der geschädigten Person auf andere Weise – etwa durch eine andere Weisung oder Auflage – Genüge getan werden kann.

 

5.3

 

Werden Beteiligte von einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt vertreten, sind diese rechtzeitig über den beabsichtigten Ausgleich zu unterrichten. Dies kann auch durch die Ausgleichsstelle geschehen.

 

5.4

 

5.4.1

Die Ausgleichsstelle nimmt unverzüglich Kontakt zu den Beteiligten auf und lädt zum TOA ein. Bei auftretenden Schwierigkeiten, wie zum Beispiel bei Rücknahme der Bereitschaft, oder absehbar gravierenden zeitlichen Verzögerungen informiert sie die Staatsanwaltschaft.

 

5.4.2

Nach Abschluss ihrer Tätigkeit berichtet die Ausgleichsstelle der Staatsanwaltschaft schriftlich über Verlauf und Ergebnis des Ausgleichs beziehungsweise der Ausgleichsbemühungen.

 

5.5

 

5.5.1

Ist ein TOA erfolgreich durchgeführt worden, hat die beschuldigte Person die Ausgleichleistung erbracht und sind weitere erzieherische Maßnahmen nicht angezeigt, sieht die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung nach § 45 Absatz 2 des Jugendgerichtsgesetzes ab.

Als Erfolg kann auch das ernsthafte Bemühen der beschuldigten Person um Wiedergutmachung der Tat gewertet werden, zu vergleichen § 45 Absatz 2 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes.

 

5.5.2

Hat der Jugendrichter die Durchführung eines TOA nach § 45 Absatz 3, § 10 Absatz 1 Satz 3 Nummer 7 des Jugendgerichtsgesetzes auf Anregung der Staatsanwaltschaft angeordnet, sieht die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung ab, wenn der TOA erfolgreich durchgeführt wurde beziehungsweise sich die beschuldigte Person um einen Ausgleich mit der geschädigten Person bemüht hat.

 

5.5.3

Die Staatsanwaltschaft unterrichtet die Ausgleichsstelle über den Ausgang des Verfahrens.

 

5.6

Kommt ein Absehen von der Strafverfolgung nicht in Betracht, weil nach Auffassung der Staatsanwaltschaft weitergehende Maßnahmen angezeigt sind oder der TOA gescheitert ist, sorgt die Staatsanwaltschaft für den zügigen Fortgang des Verfahrens. Dabei berücksichtigt die Staatsanwaltschaft im weiteren Verfahren jedes ernsthaft auf Wiedergutmachung und Schadensausgleich gerichtete Verhalten nach der Tat entsprechend dem Rechtsgedenken der § 46 Absatz 2 Satz 2, § 46a des Strafgesetzbuches zugunsten der beschuldigten Person.

 

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Zusammenarbeit

 

Alle Stellen und Einrichtungen, die Aufgaben des TOA wahrnehmen, bemühen sich um eine enge und kooperative Zusammenarbeit, damit der TOA zügig und in angemessener Zeit durchgeführt werden kann.

 

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Gnadenbehörden und Gerichte

 

Die vorstehenden Regelungen gelten sinngemäß für Gnadenbehörden. Gerichte können sie anwenden.

 

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Inkrafttreten, Außerkrafttreten

 

Dieser Runderlass tritt am Tag nach der Veröffentlichung in Kraft. Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten dieses Runderlasses tritt der Runderlass „Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafverfahren“ vom 14. März 1995 (MBl. NRW. S. 558) außer Kraft.